Autorenlesung
Was war wirklich DDR an der DDR?
Lutz Rathenow las am GMG
Kritische Literatur, die um das Thema Deutschland kreist
Es war einmal einer, der dachte nur noch schlecht über seinen Staat.
Allein der Name, drei Buchstaben, ein Insektenmittel klang ähnlich. Das Wort Tod fügt
sich aus drei Buchstaben zusammen. Alle seine Freunde stellten
Auswanderungsanträge." Der dies schreibt - er nennt es Literatur pur - heißt Lutz
Rathenow, Jahrgang 1952, geboren in Jena, lebend in Berlin.
Die jüngste deutsche Literaturgeschichtsschreibung rechnet ihn zu den
sogenannten Jüngeren der DDR" - Literaten, die in kleinen Zeitschriften
publizierten, in privaten Zirkeln lasen, eine intellektuelle Subkultur bilde-ten und
Null Bock auf alles Offizielle" (D. Dahn) als kleinsten gemeinsamen Nenner
hatten.
Denkmal für die Wende
Am Mittwoch, dem 19.2.1997, war Lutz Rathenow am Gregor-Mendel-Gymnasium zu
Gast. Oberstudienrat Huf hatte die Kontakte zu Rathenow geknüpft und dank seiner Hilfe
konnte die Tradition, Schüler mit bedeutenden zeitgenössischen Schriftstellern reden zu
lassen, fortgesetzt werden. Oberstudiendirektor Edsperger ging in seinen einleitenden
Worten auf die Wende" ein, eine Wende, der Rathenow im Gedicht Dezember
89" ein sehr persönliches Denkmal setze. Der Schulleiter wies darauf hin, dass
Nachdenken über Zeitgeschichte und die Reflexion darüber in der modernen Literatur zum
Bildungskanon der Oberstufe gehöre. Durch die Auseinandersetzung mit Rathenow wurde
diesem Anliegen ein gewichtiger Aspekt hinzugefügt.
Rathenows Literatur jüngeren Datums kreist um das Thema Deutschland - vor,
während und nach der Wende. Sie ist eine kritische Literatur, satirisch, nachdenklich und
oft nahezu metaphysisch humorvoll. Die Lebenserfahrungen des Dichters, über den 10 000
Seiten Stasi-Material existieren, und seine Auseinandersetzung mit den Lebenssituationen
in der DDR prägen Themen und Figuren seiner fiktiven Dichterwelt. Situationen, in denen
Menschen gemaßregelt, unterdrückt, psychisch unter Druck gesetzt werden, sind ebenso
Themen wie Momente scheinbarer Alltäglichkeit. Dabei fällt immer wieder der parabolische
Grundcharakter vieler Texte ins Auge. Unverhüllte Systemkritik paart sich mit einer
spielerisch-experimentellen Sprache, gerade in seiner Lyrik, die sich im Grenzbereich zur
Prosa zu Hause fühlt.
Das Leben als Stoff
Ehe man zum ausführlichen Dialog kam, las Rathenow für die Schüler zwei
Geschichten: eine Schulgeschichte, für die, wie Rathenow auf Nachfrage zugab, die eigene
Erfahrung Pate stand, und eine Satire auf die eifrige Beflissenheit eines Übergenauen aus
dem Kleingärtnermilieu, deren parabolischer Hintersinn durch den ironischen Sprachduktus
besonders eindrucksvoll zum Tragen kam.
Die rege Diskussion drehte sich in erster Linie um Lebensverhältnisse und
Alltag in der ehemaligen DDR, die ja für viele einfach schon Geschichte geworden ist.
Rathenow geizte nicht mit Episoden aus dem Alltag sowie mit persönlichen Einschätzungen
der vergangenen und aktuellen politischen Situation. Das Leben als Stoff und die Reflexion
darüber als Motiv - so schätzt der Autor seine eigene schriftstellerische Tätigkeit
ein. Folglich möchte er seine Literatur nicht als reine Erinnerungsliteratur qualifiziert
sehen.
Fazit: Lernziel erreicht
Das politische Nachdenken Rathenows kreist bis heute um die Frage, was denn das
spezifisch DDR-hafte gewesen sei. Die Antwort gestaltet sich schwierig wie jede
zeitgeschichtliche Beurteilung. Durch den Rathenow-Besuch wurden Schüler wie Lehrer
angeregt, gerade aus der Literatur darauf eine Antwort zu finden. Das Fazit der
Autorenlesung konnte für alle nur lauten: Lernziel erreicht, Lutz Rathenow.
A. F ü t t e r e r / F. H u f