Eines der Phänomene, das offensichtlich dokumentiert, dass die Vernetzung von Teilnehmern gleicher oder ähnlicher Interessen im Internet funktioniert und zwar sehr schnell und mit interessanten Ergebnissen, ist die Reaktion auf einen für eine Festschrift vorgesehenen Aufsatz mit dem Titel „Ansichten zur Kommentarkultur in Weblogs“ [PDF], verfasst von Rolf Schulmeister unter Beteiligung von Roland Leikauf und Mathias Bliemeister.
Der dort vorangestellte Kern (Abstract) sei hier zitiert:
Am Beispiel von Weblogs soll die Kommentarkultur im Internet, die wesentlicher Bestandteil der Web 2.0-Definition ist, untersucht werden. Dies geschieht anhand von drei Stichproben: von 17 Weblogs in den Geschichtswissenschaften, die Roland Leikauf beschreibt, von 5 Corporate Weblogs, die Mathias Bliemeister analysiert, und von Weblogs im Bildungsbereich (Hochschule), die Rolf Schulmeister untersucht. Die empirische Verteilung der Kommentare in diesen Weblogs wird beschrieben, und die Aussage und Kommunikationsfunktion der Kommentare werden näher charakterisiert.
Warum die Debatte über diesen Aufsatz in allen mir bekannten Bezügen im Internet “Schulmeister-Debatte” genannt wird, ergibt sich aus der Tatsache, dass Schulmeister den Teil über die “Weblogs im Bildungsbereich (Hochschule)” verfasst hat. Entweder die Autoren und Kollegen in den Geschichtswissenschaften und im Bereich der Firmen-Blogs haben diesen Text noch nicht wahrgenommen – oder ich kenne niemanden aus diesen Bereichen (was gut sein kann). Es geht hier jedenfalls um Schulmeisters Analyse der Bildungsblogs – oder, genauer gesagt, um die “Kommentarkultur” dort.
Interessanterweise ändert Schulmeister die im Abstract genannte zu untersuchende Gruppe “Weblogs im Bildungsbereich (Hochschule)” und formuliert in seiner Überschrift “Weblogs zur Bildungspolitik und eLearning” (S. 8) – dabei sind weder Bildungspolitik noch eLearning notwendigerweise an Hochschulen angesiedelt.
Im ersten Satz wird auch diese Eingrenzung der zu untersuchenden Gruppe wieder aufgeweicht, denn hier spricht er davon, er habe sich “Weblogs deutscher EduBlogger vorgenommen”, beschränkt auf Blogger, die “vorwiegend im Hochschulsektor und Weiterbildungssektor bloggen”. Die Idee, diese Blogger aus der Blogroll einer ihm bekannten Hochschulbloggerin, Gabi Reinmann, zu entnehmen, finde ich ganz originell.
N.B.:
Leider geht er mit keinem Wort auf den geistreichen Titel von Reinmanns Blogs ein: “E-Denkarium”, eine offensichtliche Anspielung auf das “Pensieve” (“Denkarium”) des Zauberers Dumbledore – aus J. K. Rowlings Reihe um Harry Potter – in dem Dumbledore Gedanken ablegt, die er für aufbewahrenswert hält, so dass er sie später jederzeit wieder abrufen kann. Ein schöner Vergleich für eine der Funktionen eines Blog.
Wie auch immer – Schulmeister findet anhand der gegenseitig abgegebenen Kommentare unter den Bloggern aus Reinmanns Blogroll ein Netz von elf (höchstens 15) Autoren, die er als EduBlogger gelten lässt, und analysiert durch Zählen von Beiträgen und inhaltliche Analyse, was da so alles kommentiert wird. Sein Fazit: So weit her ist es nicht mit der Kommentar-Kultur – kann es auch gar nicht, denn wer hätte denn die Zeit dafür. (Ich verkürze etwas, pardon.) Zum Beleg setzt er ein schönes Zitat aus einem früheren Anthologie-Beitrag von sich an den Schluss.
In der Diskussion über diese “Ansichten zur Kommentarkultur” haben sich eine Reihe von Bloggern aus dem Bereich der Bildung u. a. im Versuch einer kollaborativen Rezension geäußert, die sich auf Etherpad entwickelt hat (angelegt von Sandra Hofhues).
Herrn Larbigs Blog ist ein weiterer guter Anlaufpunkt für Informationen und kritische Gedanken hierzu, denn in seinem Beitrag „Vernetzter Diskurs: Ein Beitrag zur Schulmeister-Debatte“ listet er nicht nur die bisher erstellten Blogbeiträge zum Thema auf, sondern entwickelt selbst eine sehr sachliche und doch pointiert zugespitzte Analyse.
Wer ist denn nun eigentlich der Auslöser all dieser Blog-Aktivitäten? Prof. Dr. Schulmeister ist inzwischen im Ruhestand, und er kann auf eine lange aktive Karriere als Hochschullehrer zurückblicken. Eine Seite auf der Homepage des Zentrums für Hochschul- und Weiterbildung der Universität Hamburg gibt einen Überblick über seine Tätigkeiten und Publikationen – eine eigene Homepage scheint er nicht zu haben, und auch ein Blog habe ich vergeblich gesucht.
Für seine Einstellung zum Internet scheint mir u. a. dieses Interview im Deutschlandfunk typisch: “Gibt es die Net-Generation wirklich? Der Kritiker der Digital-Natives-Diskussion, Rolf Schulmeister, im Interview”.
Er wertet nicht – er untersucht nur. Er stellt fest: Die Jugend nutzt das Internet nicht so, wie viele (erwachsene) Internet-Fans das behaupten.
Dazu sage ich: Er hat sicher recht. Aber welche Schlussfolgerungen sollte die Schule daraus ziehen? Sollte das denn nicht ein Anlass sein, die vernünftige, produktive, informative Seite des Internets den Schülern näherzubringen und sie im sinnvollen Umgang damit zu schulen?
Und für wen ist diese Festschrift, in der Schulmeister über die Kommentarkultur schreibt, gedacht? Für Prof. Dr. Stefan Aufenanger, der sowohl eine eigene Homepage als auch ein eigenes Blog hat … mit sehr wenigen Kommentaren übrigens, aber ich verlinke hier einen Beitrag, der einen schönen Kommentar erhalten hat: „Kompetenzen in einer digital geprägten Kultur“.
Ob sich Aufenanger über Schulmeisters Analyse der Kommentarkultur freuen wird? Wer weiß.
[Ergänzungen in Kommentaren abgelegt.]
Ergänzung:
Schulmeister ist in einer “Replik” [PDF] auf die Etherpad-Diskussion eingegangen – sehr lesenswert.
Mit dem “ersten Etherpad” ist die Diskussion gemeint, die sich unter der Überschrift “Rezension” entwickelt hat: hier. – Das zweite Etherpad befindet sich im unteren Frame dieses Framesets, das Helge Städtler eingerichtet hat: da.
Charmant finde ich Schulmeisters Erklärung, warum er nicht selbst ein Blog betreibt: “Ich habe regen Austausch mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland nach dem Muster der Korrespondenznetzwerke aus dem 18. und 19. Jh.”, und er verweist auf einen Artikel von sich mit dem Titel “Wer hat eigentlich als erster die Idee zum Bloggen gehabt?” (Bezug auf Adolf Freiherr von Knigge).
Ansonsten kommentiere ich diese Entwicklung nicht weiter – bis auf die Feststellung, dass mich diese Reaktion Schulmeisters freut. Und nun schweige ich ;-) (-> Tweet von @stcordes).
Im Blogeintrag von Beat Döbeli Honegger hierzu eine IMO treffende Darstellung der Vernetzung von Kommunikationswegen:
genau. diese ganze sache mit den kommentaren, vernetzungen und deren analysen sind für mich etwas fraglich, und eigentlich höchstens quantitativ aussagekräftig im technisch referenzierbaren raum.
wenn du z.B. in einem tweet zu jemand anderen sagst, ich sei nicht beratungsresistent, wer kann dass nachvollziehen? ich ja, nicht weil ich irgend wo eine datenbank habe die ich befragen kann. ich greife auf das mir wichtigste werkzeug, mein hirn zu. ich erinnere mich an unsere kurze diskussion auf twitter zum thema wählen gehen oder nicht. und ich erinnere mich dass ich dachte “was ist das für ein blöder hund?” und ich erinnere mich dass du mich zum weiter denken bewegt hast. ich habe über diese angelegenheit keinen blogbeitrag verfasst. es ist nur in meinem hirn drin (und bei twitter). daraus ergeben sich haltungen und anschlüsse die wer bitte analysieren will? gut, jetzt hab ich es ja, wenn auch nicht besonders ausführlich nochmal externalisiert durch diesen text.
und was wird alles in inneren dialogen kommentiert?
viele menschen sind überhaupt nicht in der lage (mich eigeschlossen) mal eben gedanken ausführlich und mit einem gewissen literarischem anspruch zu externalisieren in form von text oder was weiß ich wie.
überspitzt gesagt glaube ich nicht dass man gedanken ablegen kann, sondern nur produkte aus gedanken.
gedanken gibt es aus dieser überspitzten perspektive nur in der gegenwart… “ich denke also bin ich” und nicht “ich kommentiere also bin ich”!
@Michael: Schön, dass du dieses Beispiel erwähnst – beim Stichwort “beratungsresistent” habe ich an dieselbe Twitter-Unterhaltung gedacht. Aber ich habe mich hauptsächlich deswegen daran erinnert, weil du mir damals eine Rückmeldung gegeben hast – das war für mich der Beweis, dass 140 Zeichen doch für eine ganze Menge Inhalt Platz bieten.
Zum Gedanken-Ablegen: Genau genommen hast du recht – das Denken selbst (also den Prozess) kann man nicht deponieren, höchstens ein Protokoll davon oder eben, wie du sagst, das Ergebnis. Ich habe “Gedanken” im Posting etwas leichtfertig und schwammig verwendet. Danke fürs Mitdenken.
Danke, endlich berührt: Wie schmeckt denn dem ungefragt gefeierten Anstifter des “Medienpädagogischen Manifests” Aufenanger (unbestritten einer der fortschrittlichsten Vertreter unserer Zunft) dieses Kuckucksei?
Aber die Zeiten, in denen eine Festschrift auch als “Freundesgabe” deklariert werden konnte, sind vorbei …
Unter Referenz auf die o.a. Motive aus Harry Potter bezeugt jemand, der von Anbeginn wusste, dass Severus Snape zu den Guten zählt: Aufenanger ist auch so einer!