3. Anwendungen

 
3.1 Der Goldene Schnitt in der Natur
3.1.1 In der Tier- und Pflanzenwelt
 
 
Eindrucksvoll finden sich die Fibonacci-Zahlen an Ananas, Tannenzapfen oder Sonnenblumen wieder. Bei letztgenannter ist jeder Kern einer rechts- und einer linksdrehenden Spirallinie zugeordnet. Zählt man die Anzahl der links- sowie rechtsdrehenden Spirallinien, so erhält man z. B. 144 und 89 oder wie in dem im Anhang gezeigten Beispiel 55 links- und 89 rechtsdrehende Spiralen (in jedem Fall benachbarte Fibonacci-Zahlen). 
 
 
 
 

(Zur Erleichterung für das Nachzählen wurde jede 10. Spriallinie eingefärbt.)

 

Viele Pflanzen weisen Fünfeckformen auf, manche sehr deutlich und exakt wie die Akeleiblüte, andere wiederum etwas "verschwommen":

Auch beim Längenwachstum z. B. eines Pappelzweiges tritt die stetige Teilung auf, ebenso wie bei der Blattanordnung (Phyllotaxis) z. B. an der Weide. Beim Blatt selbst steht Länge zur Breite oft 8:5. Bei einer bemerkenswerten Messung von Rudolf Engel-Hardt (1919) entsprachen von 500 "normalen" (?) Eichenblättern
 

235 genau den Proportionen des Goldenen Schnittes, 

93 zeigten Abweichungen von 1 mm 

92 zeigten Abweichungen von 2 mm 

30 zeigten Abweichungen von 3 mm 

50 zeigten Abweichungen von 4 mm.

 
Hier nur an den Zufall zu glauben, wäre etwas vermessen.
 
 

Timerding bemerkt in seinem Buch "Der Goldene Schnitt" (1919) hierzu jedoch kritisch, dass ein "gewisser Spielraum bleibt in der Auswahl der Abstände, und daß man suchen wird, die Messung so auszuwählen, wie sie das gewünschte Verhältnis liefert".
In der Tat weisen die Ergebnisse zwar unbestreitbar ein häufiges Vorkommen der "göttlichen Proportionen" nach, gleichzeitig darf aber vermutet werden, dass der Wunsch Vater der Ergebnisse war. Ähnlich verhält es sich wohl auch bei "meinen" Messungen an verschiedenen Personen.

 

3.1.2 Der Goldene Schnitt beim Menschen

Auch ich musste erkennen, dass Endpunkte zum Teil nicht eindeutig definiert werden können, in meinem Fall - ich vermaß die Strecken Ellenbogen - Handgelenk- Fingerspitze - war dies insbesondere beim Handgelenk so. Aus diesem Grund stellte ich meine Messungen nach (relativ) wenigen Versuchen ein. Erwartungsgemäß ergaben sich durchgehend nur (sehr) geringe Abweichungen beim Verhältnis Ellenbogen - Handgelenk zu Ellenbogen - Fingerspitze zum Verhältnis des Goldenen Schnitts. Genauere Angaben zu meiner eigenen Messreihe  finden Sie hier wieder.

Auf seine Weise ist das Ergebnis dennoch beeindruckend. Trotzdem liegt es mir vollkommen fern, in Begeisterungsstürme wie Adolph Zeising 1854 auszubrechen, der enthusiastisch vom "Grundprinzip aller nach Schönheit und Totalität drängenden Gestaltung im Reich der Natur ..." und von einem "...höchsten Ziel und Ideal", das "erst in der Menschengestalt seine vollkommenste Realisation erfahren hat", sprach. Hier ein absolutes Naturgesetz zu interpretieren, wäre schlichtweg nicht wissenschaftlich.

Weitere Beispiele für die stetige Teilung am menschlichen Körper sind der Nabel und die Fingerspitzen des herabhängenden Armes, die den Stehenden stetig teilen (Major einmal oben und einmal unten), das Verhältnis Kopfhöhe : Kopfbreite, Augenbreite (=Abstand der äußeren Winkel): Mundbreite, oberes zu unteres Fingerglied, u.v.a.
Hier finden Sie die Abbildung eines "golden geteilten Menschen".

Viele Naturforscher beschäftigten sich intensiv mit dem Vorkommen des Goldenen Schnittes ernsthaft, doch manchmal auch etwas übersteigert. Tatsächlich trifft man die "göttlichen Proportionen" an den verschiedensten Stellen, oft eben auch an Dingen, die besonders durch ihre Schönheit bestechen.

Was aber ist Schönheit?

 
 

3.2 Was ist Schönheit?
Schon Dürer bemühte sich über Jahre hinweg, Regeln für die Schönheit zu erarbeiten. Er musste feststellen, dass sich die Schönheit nicht in ein Gesetz fassen lässt, nicht in einer festen Größe zu definieren ist. In den "schönen Künsten" findet man häufig Verhältnisse - räumlich oder auch zeitlich versetzt - die zwischen 0,6 und 0,65 liegen. Ob es sich jedoch dabei jedesmal um ein- und dasselbe handelt, lässt sich rein empirisch nicht eindeutig bestimmen, da bei einer Bewertung wohl immer eine gehörige Portion Subjektivität mit einfließt.
 
Kritiker sprachen und sprechen daher dem proportio divina - zurecht ? - alle Göttlichkeit und jedweden Absolutheitsanspruch ab. Das Maß aller Dinge - falls dieses tatsächlich als reelle Zahl existiert -
könne nämlich ebenso  oder  sein (letzteres unterscheidet sich von  nur um 0,010, eine Differenz, die bei kleinen Dimensionen allein mit dem Auge kaum erkennbar ist).

Dem gegenüber stehen allerdings die umfangreichen Experimente eines gewissen G. Th. Fechner, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts (1876) Versuchspersonen eine Anzahl von Rechtecken mit unterschiedlichen Formaten, d. h. Seitenverhältnissen zur Wahl stellte. Von den vorhandenen Rechtecken entpuppte sich in der Tat das an den Goldenen Schnitt angepasste (21:34) als das "schönste". Diesen Sachverhalt wollte ich persönlich nachprüfen. Als Versuchspersonen wählte ich u. a. meine Klassenkameraden, die über die Schönheit von Rechtecken zu entscheiden hatten. Mein Ergebnis, das sich hier in Gegenüberstellung zu Fechners Resultaten  findet, spricht auf ein neues für die verblüffende Gültigkeit des Goldenen Schnitts als Schönheitsprinzip.

 
 

3.3 Der Goldene Schnitt in der Architektur
 
 
 
Ob bereits die Ägypter ihre Cheopspyramide nach dem Goldenen Schnitt oder eben nach anderen geometrischen Prinzipien bauten, darüber streiten sich die Experten noch heute. In der griechischen Architektur spielte er aber entschieden eine große Rolle, auch schon vor Euklid. Die Vorderfront des Parthenon (siehe nebenstehende Abb) passt genau in ein goldenes Rechteck, außerdem entsprechen auch Durchmesser und Höhe der Säulen, Höhe und Teilpunkte des Gebälks sehr exakt den Maßen, die sich bei einer fortgesetzten stetigen Teilung ergeben. 
 
 
 
 

In der Renaissance erfährt die Sache des Goldenen Schnittes eine Art Wiedergeburt. Karl Freckmann schreibt, in "Proportionen in der Architektur", dass sich "von 1380 bis 1770 eine gewisse Entwicklung abzeichnet, die auf die vorherrschende Anwendung der ‘goldenen’ Teilung hinausläuft" 

Beim Dom in Florenz (Planung 1367) betragen die Baumaße Höhe der Kuppel 144 Bracci (1 Braccio = 58,4cm) und Höhe des Kuppelansatzes genau 89 Bracci, was dem Verhältnis des Goldenen Schnittes entspricht. 
 
 

 
 
 
In unserem Jahrhundert verwendete vor allem Le Corbusier (1887 -1965) bewusst den Goldenen Schnitt. In seinem Werk "Der Modulor" schreibt der franz Architekt, "der ‘Modulor’ ist ein Maßwerkzeug, das von der menschlichen Gestalt und der Mathematik ausgeht".
    Le Corbusier dazu: 

    "...Ein Mensch mit erhobenem Arm liefert die Hauptpunkte der Raumverdrängung - Fuss, Solarplexus, Kopf, Fingerspitze des erhobenen Armes - drei Intervalle, die eine Reihe von goldenen Schnitten ergeben, die man nach Fibonacci benennt....."

 
Er entwickelte nach einem "idealen" Menschen Maßreihen (Rote und Blaue Reihe), dessen Schnittverhältnisse er konkret bei allen seinen bauarchitektonischen Projekten anwandte, z. B. bei der Unité d’Habitation in Marseille (siehe Abbildung rechts)
<-----------Sein Modulor wurde zum Teil auch im Bereich der Innenarchitektur benutzt, setzte sich jedoch nirgends durch. 
 
 

 
 
 

3.5 Der Goldene Schnitt in der bildenden Kunst

In der bildenden Kunst wird der Goldene Schnitt vorrangig deswegen verwendet, um dem Gesamtwerk einen harmonischen Eindruck zu verschaffen oder um bestimmte Details hervorzuheben.

Ein Vorzeigebeispiel für die Anwendung des Goldenen Schnitts ist die griechische Plastik des "Apollon von Belvedere" (siehe Abb. XXV, S. 28), der das Vorkommen der stetigen Teilung sowohl in der Kunst als auch in der Natur vereint. Bei den Gemälden werden besonders häufig die Werke von Raffael, Leonardo da Vinci sowie von Dürer genannt. Bei erstgenanntem setzen die goldenen Punkte besonders sinnige Akzente. Die Waagrechte, die z. B. die Höhe der "Galeta" im Goldenen Schnitt teilt, ist gleichzeitig Trennlinie zwischen irdischem und himmlischen Bereich. Auch bei seiner "Sixtinischen Madonna" beweist Raffael (1480 - 1520) perfektes Anordnungsgeschick (Abb. XXVI, S. 28).

Dem geheimnisvollen Lächeln der Mona Lisa kam man nicht auf die Spur, dennoch ist klar, dass Leonardo da Vinci (1452 - 1519) den ihm wohlbekannten Goldenen Schnitt als Gestaltungshilfe verwendete. In das Bild kann z. B. ein goldenes Dreieck einbeschrieben werden, dessen Basis der Rahmenbreite entspricht.

In Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500 kann ebenfalls die Verwendung des Goldenen Schnitts interpretiert werden.

Auch bei manchen neoimpressionalistischen und modernen Bildern, die durch ihre abstrakten, geometrischen Strukturen glänzen, lässt sich ab und an die stetige Teilung nachweisen. Ob es sich hier um Zufall oder um hintergründige Intentionen der Künstler handelt, darüber lässt sich streiten.

 

3.5 Der Goldene Schnitt in Literatur und Musik
 
 

 
 
Vorab möchte ich erwähnen, dass das bevorzugte Verhältnis im Buchdruckerhandwerk das des Goldenen Schnitts ist. Insbesondere beim Layout des Satzspiegel und der Rändergestaltung werden gerne 3:5- oder 5:8-Maße verwendet. Nun zur Literatur an sich: 
 

Ein eifriger Forscher und Goldener-Schnitt-Fanatiker namens Duckworth zählte 1962 in Vergils (70-19 v. Chr.) Epos "Äneis" Zeile für Zeile in den verschiedenen Absätzen und stellte fest, dass diese sich im Goldenen Schnitt verhalten. 
Ich halte mich in diesem Fall an M. L. Clarke, der dazu 1964 kritisch anmerkt, "...such proportions could be found in any poet [...] and that they are accidental and without significance"

Etwas überraschender ist, dass sich im mittelalterlichen Laurentiushymnus 144 Silben lang rühmend an Laurentis gewandt wird und anschließend 89 Silben der Fürbitte folgen. Trotz allem denke ich, ist der Bezug zum Goldenen Schnitt etwas weit hergeholt, auch bei der Analyse der Grimmschen Märchen, in deren Gesamtheit das Verhältnis der "positiven" zu den "negativen" Charakteren angeblich gleich F : 1 ist. 
 

Überzeugender sind dagegen Beispiele in der Musik. Im Geigen- und Flötenbau spielt der Goldene Schnitt insofern eine Rolle, da Frequenzen im Verhältnis der Fibonacci-Zahlen als besonders reizvoll empfunden werden und daher für klangschöne Instrumente bürgen. 

Bei einer umfangreichen Werkanalyse des ungarischen Komponisten Béla Bartók (1881 - 1945) zeigte sich der Goldene Schnitt als beherrschendes Grundprinzip. Seine Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug ist bis in das kleinste Detail nach dessen Grundregeln strukturiert. 
So dauert z. B. die gesamte Sonate exakt 6432 Achtelnoten lang, der zweite (langsame) Satz beginnt nach 3975 Achtelnoten (3975 * F = 6431,7 !). Dies ist kein Einzelfall. 
Bartók holte sich viele Anregungen aus der Musik des Volkes und es heißt, Bartóks Lieblingsblume sei die Sonnenblume gewesen und er habe sich stets über Tannenzapfen auf dem Tisch gefreut, zwei deutliche Erscheinungsformen des Goldenen Schnitts in der Natur. 
 

        Alles Zufall?
 
 

4.0 Schlussbemerkung

Gerade das letzte Beispiel macht deutlich, dass dem Goldenen Schnitt bis in die heutige Zeit ein altertümlicher Hauch des mystischen Mittelalters anhaften geblieben ist. Experten oder solche, die meinen, welche zu sein, streiten um die Bedeutung dieses einst als "göttlich" gepriesenen Verhältnis. In der Mathematik, in der bekanntlich stets eine eindeutige "Sprache" gesprochen wird, ist der Goldene Schnitt häufig "das erste und somit einfachste nichttriviale Beipiel im Rahmen weiterführender Verallgemeinerungen" und ihm gebührt deshalb eine zentrale Rolle.

Aus diesem Grund finde ich es auch sehr schade, dass der Goldene Schnitt, obwohl man sich seiner (mathematischen) Bedeutung bewusst scheint, nicht (mehr) in der Schulmathematik behandelt wird.

Faszinierend ist, dass der Goldene Schnitt seine außer-mathematische "magische" Anziehungskraft bis heute erhalten kann, vor allem, wenn man bedenkt, dass er auch in neuen Forschungsbereichen immer wieder neu auftaucht. Im Bereich der Metaphysik und der Chaosforschung hat man ihn sogar schon als "letzte Bastion der Ordnung im Chaos" bezeichnet.

Allein schon deswegen wage ich, dem Goldenen Schnitt ein "goldene" Zukunft vorauszusagen.